Jede künstlerische Arbeit setzt eine geistige Fermentation des sinnlich Erfahrenen voraus.
(Peter Rübsam, Bildhauer)
Mit der Nachbarin Kuh, die neugierig über den Weidenzaun hinweg mit mir Kontakt aufnahm, fing alles an. Ihr schönes Gesicht und ihre freundliche Zugewandtheit haben mein Interesse am Kuhgesicht geweckt. „Wenn wir einer Kuh in die Augen blicken, so nehmen wir sie als Mitgeschöpf ernst, wir begegnen ihr sozusagen ‚auf Augenhöhe’, …...“ (Florian Werner: Die Kuh). Die Nachbarin Kuh und ich, wir sind uns auf Augenhöhe begegnet. Wenige Zeit später entstand aus der Erinnerung an diese Begegnung am Weidenzaun eine kleine Zeichnung. Das war 1989. Es dauerte vier Jahre, bis die kleine Zeichnung als Vorlage für Farbstudien Verwendung fand (1993). Aus den Farbstudien wurde mehr als geplant, nämlich meine ersten Kuhgesichter-Bilder, ein Triptychon (FANT). 1998 nahm ich das Thema im Zusammenhang mit den BSE-Skandalen wieder auf, und es entstanden drei kleinformatige Malereien. Der eigentliche Zugriff auf das Thema geschah dann 2001, während zeitgleich über die Verankerung des Tierschutz-Gedankens im Grundgesetz diskutiert wurde. Es geht um die Diskrepanz zwischen dem wirtschaftlichen Faktor Rind einerseits und der Würde der Tiere als Individuen andererseits.
S C O T T - Stiergesicht 90 x 160 cm Acryl auf Nessel 2010
Seitdem habe ich noch etliche Kühe und auch Stiere am Weidenzaun aufgesucht, oder im Stall oder auf einer Landwirtschaftsschau. Nicht immer habe ich lebhafte Neugier und freundliche Zugewandtheit erlebt, sondern auch Desinteresse an mir als Zaungast, Misstrauen oder hochmütig abschätzende Blicke mit einem oder zwei zurückgelegten Ohren. In Indien sind die Kühe mir in großen Städten auf der Straße begegnet, auch auf Augenhöhe, scheinbar frei, etwas aggressiv und sehr selbstbewusst entsprechend ihrem Status in der Hindu-Kultur. Die Tiere flößen mir Respekt ein, ich fühle mich klein in ihrer Gegenwart und ich bin froh, wenn es eine Barriere gibt zwischen ihnen und mir. Barriere oder nicht: Als Folge weiterer Begegnungen entstanden weitere Zeichnungen und klein- und großformatige Bilder und andere Arbeiten von Kuhgesichtern und Stiergesichtern. Die Basis für alle folgenden Zeichnungen und Malereien von Kuhgesichtern und Stiergesichtern wurde mein Triptychon von 1993.
Auf meiner Suche nach Informationen über Rinderrassen – Informationen, die über Nutztier-Charakterisierung hinausgehen – fand ich das im Jahr 2000 in 4. Auflage erschienene, überaus liebenswerte Buch von Michael Brackmann: „Das andere Kuhbuch“. „Kuhmann aus Leidenschaft“, so bezeichnet Michael Brackmann sich selbst. Er spricht in seinem Buch von den Rindviechern als von „bedeutenden Mitgeschöpfen“, die Zeitgenossen sind, ohne die wir nicht auskommen können. Im Jahr 2009 erschien das ebenso liebenswerte Buch „Die Kuh“ von Florian Werner, das dem Rind schon mit dem bemerkenswerten Untertitel „Leben, Werk und Wirkung“ einen menschlich dimensionierten Anteil zugesteht am Entstehen von Kulturen über die Jahrtausende. In vierzehn Kapiteln breitet er aus, welche Rollen die Kuh auf ganz verschiedenen Ebenen, etwa auf der Symbolebene oder der Realebene oder in Mythen gespielt hat, wie sich ihr gesellschaftliches Ansehen verändert hat im Laufe der Zeit bis hin zum Verlust jeglichen Respektes heutzutage. Stiere sind im Buch von Florian Werner nur am Rande erwähnt.
„Am Anfang war die Kuh“ titelt Florian Werner in seinem Buch: „Das Rind assistierte dem Menschen bei der Ausbildung von Hochkulturen …“. Rinder waren von alters her in den meisten Kulturen fest verortet. In Kuhkulten, Stierkulten, Stierriten wurden sie verehrt oder geopfert oder beides. Bos taurus und Homo sapiens, sie machten sich vom Moment der ersten Begegnung an voneinander abhängig. Dem Menschen gelang es, das Rind zu domestizieren, das Rind ließ sich domestizieren, eine Art Vertrag auf Gegenseitigkeit. Seither sind sie aufeinander angewiesen, im Sinne von mehr Lebensqualität, durchaus beiderseits. Folgerichtig sind sie auch seit Jahrzehntausenden und in allen Kulturen Thema in der bildenden Kunst gewesen. Am Anfang war die Kuh, und am Anfang war die Höhlenmalerei. Es gab später Zeiten (16. bis 19. Jahrhundert), in denen die Kuh in der europäischen Malerei ein zentrales Motiv war. Eher selten allerdings wurde Wert gelegt auf die Darstellung des Gesichtes, des ausdrucksvollen Antlitzes im Sinne von Portraitmalerei. Eine der wenigen, sehr berühmten und sehr schönen Kuhgesicht-Darstellungen ist die von Martin Schongauer in dem Bild „Die Geburt Christi“ aus dem 15. Jahrhundert.
Ich habe für diese Werkgruppe den Titel KUHGESICHTERSTIERGESICHTER gewählt (und nicht „Rinderportraits“ oder „Kuh- und Stierportraits“), um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Weil der Begriff „Portrait“ im Wesentlichen für die künstlerische Darstellung des menschlichen Gesichtes reserviert ist bzw. weil Begriffe wie „Rasseportraits“ oder „Rinderportraits“ etc. sich jeweils auf das komplette Tier beziehen von Hornspitze bis Schwanzende, inklusive z.B. Fleischqualität oder Milchleistung. Ich möchte also ganz unmissverständlich klar machen: Ich zeichne male fotografiere die Gesichter von Kühen und Stieren, ihr Antlitz. Die Titel der Bilder sind überwiegend eine Art „Rassekürzel“. Das Gewicht, das ich dem Thema beimesse, entspricht der Bedeutung, die Bos taurus für das Überleben von Homo sapiens hat, und das seit archaischen Zeiten.
Es leben heutzutage auf unserem Globus etliche Hundert Rinderrassen, überwiegend Zuchtrassen, die sich in sichtbaren oder messbaren oder schmeckbaren Merkmalen voneinander unterscheiden. Doch die Köpfe sind der Blickfang, mit oder ohne Hörner, und ein zu jedem Kopf gehörendes Gesicht. Verschiedene Kopf- und Gesichtsformen sowie die vielen Variationen der Behornung sind Gegenstand meiner Arbeiten. Aus der Vielfalt der Rinderrassen habe ich nur solche ausgewählt, die ich persönlich kennengelernt habe. Doch an der – zu-gegeben sehr begrenzten Auswahl meiner Formenanalysen – lässt sich die Vielfalt der Rinderrassen durchaus erahnen. Der Schwerpunkt meiner künstlerischen Arbeit liegt in dem Anspruch, dem Lebewesen Rind ein Gesicht und damit eine Individualität zuzugestehen.
Grundlage für meine Bilder sind die oben schon erwähnten Zeichnungen. Sie sind stilisierte Zeichnungen, in denen ich das herausgearbeitet habe, was ich als die „Architektur eines Rindergesichtes“ bezeichne. Die geometrischen Flächen und rechten Winkel symbolisieren die Statik des Knochengerüstes und den Ausdruckscharakter des Tiergesichtes. Denn die Mimik im Rindergesicht ist – gemessen an der Mimik im menschlichen Gesicht – nur rudimentär möglich. Das heißt im wesentlichen: Nicht lächeln oder lachen können. Aber es gibt einen Blick mit leicht melancholischem – bei einem menschlichen Gesicht würde ich sagen versonnenem – Ausdruck bei den Kühen, mit gefährlichem oder unberechenbarem Ausdruck bei den Stieren. Die Zeichnungen, zunächst rein graphische Analysen, erscheinen als wieder kehrendes Stilmerkmal in allen Bildern – auf Papier auf Holz auf Nessel – als Konstante. Während mir für jede Zeichnung ein Kuh- oder Stierindividuum „Modell gestanden“ hat, sind die Farben für die Gesichter freie Setzungen.
Z E B U - Kuhgesicht 85 x 105 cm Acryl auf Nessel 2008
Die farbliche Ausprägung des zeichnerisch vorgegebenen Rasters stellt die zweite Ebene meiner gestalterischen Intentionen dar, die dem architektonischen Liniengerüst Fülle verleiht. Mehr oder weniger bewegte Hintergründe, in vielen Bildern Wolkenhintergründe, bilden die Projektionsfläche für die statischen Gesichterformen und für die farblichen Setzungen. Das Bild gerät zur Schnittstelle zwischen Realebene und Symbolebene, wenn die Dynamik der Wolkenformationen oder der informel gemalten Hintergründe mit der Statik der Gesichterformen und dem Ereignis der Farbsetzungen kombiniert wird.
Es gibt noch andere Phänomene, die mich faszinieren und die mich zu künstlerischer Auseinandersetzung verleitet haben. So wie mich bei den Kuh- und Stiergesichtern die Formen von Köpfen und Gesichtern der verschiedenen Rinderrassen, ihre Individualität und ihre Aura interessieren, so sind es in der Stadt Trier die Farben der Stadt, genauer gesagt, das Trierer Farbenchaos und die Struktur der Farbflächen. So sind es bei den Hortensien die Farben und Formen der einzelnen Kelchblätter (Scheinblüten), deren Besonderheit im Allgemeinen in der Bündelung in üppigen Trugdolden untergeht. Bei den „Skizzen aus dem Unbewussten“ ist es das Unbewusste mit seinen geheimnisvollen Hervorbringungen und Wirkungen. Und bei der Goldenen Spirale ist es die Dynamik ihres Verlaufes und ihre kosmische Dimension. So verschieden die inhaltlichen Schwerpunkte auch sein mögen: die Bilder stehen auf mehr als einer Ebene miteinander in Verbindung. Es gibt verbindende Elemente in der Formensprache, in den Formaten, in den Zeichnungen bzw. in der Behandlung der Zeichnungen und in der Art der Farbaufträge. Mit den scharfen Kanten und rechten Winkeln im Rindergesicht schließe ich durchaus an, an die scharfen Kanten und rechten Winkel in den Trier-Bildern, die Architektur-Malerei sind.
Geometrische Formen mit rechten Winkeln und scharfen Kanten haben in allen meinen Bildern immer auch einen Symbolwert: Sie stehen für das Prinzip Architektur und – für Bän-digung. Auch Stall-Architektur kommt ohne rechte Winkel und scharfe Kanten nicht aus. Architektur und Ingenieurskunst sind für mich ganz allgemein Sinnbild für gebändigte Natur. Sie bedeuten neben dem Versuch, mit der Natur zu leben, vor allem Schutz vor der Natur. Wenn ich also über meine Bilder als letzte Schicht Rechtecke und Quadrate farbig lasiere, dann ist das nicht nur ein Spiel mit dem Format oder mit farblich gestalteter Geometrie, sondern dann hat das außerdem etwas mit Bändigung zu tun. (Bild und Text: Linde Ross 2016)
Aus: Linde Ross Zeichnung und Malerei 1993-2011 Düsseldorf 2016 ISBN 978-3-00-052440-0 |
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